… die, wenn die Sonne sie bescheint, einen blendenden Glanz wie Spiegel von sich geben.

Dr. Petra Lanfermann

Ulrike Heydenreich verfolgt in ihren jüngsten, nun erstmals präsentierten Werken ihre Motive weiter und entwickelt sie zugleich fort: Ihr Interesse für Kartografie und das grundlegende Thema der Raum-Zeichnung bleiben virulent und erhalten neue Ausformungen. Das Erproben von unterschiedlichen Perspektiven und den Eigenschaften verschiedener Papiere, das Auffächern von kristallinen Formen und das Spiel mit Reflexen spielt in allen Werkgruppen eine wichtige Rolle. Dies belegt auch der verheißungsvolle Ausstellungstitel, den sie wählte, er entstammt einer Eisgebirgsbeschreibung in vorromantischer Zeit.Ulrike Heydenreichs Zeichnungen wie auch die Collagen Neuland mit schneebedeckten Berghöhen und den dortigen Wanderern wirken der Zeit seltsam enthoben. Bei allen Raum-Zeichner/innen spielt der Aspekt der Zeit – komprimierte Zeit, Vergänglichkeit und Ewigkeit – eine ganz wesentliche Rolle,2 bei Ulrike Heydenreichs Landschaftsmotiven jedoch dergestalt, dass die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die historischen Fotovorlagen, die sie nutzt, werden somit in die Gegenwart überführt und behalten zugleich ihre ehemalige Aura. Und das Motiv Gebirge ist letztlich ein zeitloser Ort: Neben dem Meer noch am ehesten „ursprünglich“, am wenigsten von Menschenhand verändert, hier sucht der Mensch nachgerade Einsamkeit, Ursprünglichkeit, Ruhe, Weite und fühlt sich noch heute klein und unscheinbar. Das Gefühl der Erhabenheit, das schon die Romantiker mit Gebirge verbanden und in ihren Bildern ausdrücken wollten, stellt sich auch heute noch am ehesten hier ein – Berggipfel scheinen dem Himmel so nah. Caspar David Friedrich etwa zeigte sich in einem Gemälde als Wanderer über dem Nebelmeer (1818): Auf dem Gipfel stehend vor dem Bergpanorama schaut er über die zeit- und grenzenlose Natur, großartig und lebensfeindlich zugleich. Doch steht er dort im Anzug und man kann sich vorstellen, dass er sogleich ein Gipfelkreuz als Zeichen der vermeintlichen „Natureroberung“ durch den Menschen setzt.

Ging es den Romantikern seinerzeit neben der metaphysischen, symbolischen Aufladung auch um die Wiedererkennbarkeit der Landschaft, so spielt die konkrete Verortung in verwandten Werken des 21. Jahrhunderts keine Rolle mehr.3 In den Collagen Ulrike Heydenreichs wird die Landschaft zu einer Art Bühne, von den Staffage-Figuren betrachtet wie ein Theaterstück. Dass Landschaft letztlich immer an die Imaginationen und Assoziationen des Betrachters gekoppelt ist – denn nur so wird aus Natur überhaupt eine Landschaft –, wird in den Collagen höchstselbst anschaulich. Denn etwas stülpt sich über die Landschaft, die sie soeben entdecken und bewundern: kristalline Konstruktionen, die an eis- oder quarzartige Formen erinnern. Wie feines Gittergewebe, das wiederum mit den Naturformen korrespondiert,  kann es ebenso irritieren wie sich gleichermaßen einfügen. In einigen Collagen ist es gar losgelöst vom Gebirge, schwebend in der Höhe oder den Wanderern folgend, die nach links aus dem Bild zu entschwinden scheinen. Die Künstlerin gibt mit der realistischen Landschaft, den Wanderern und der geometrisch-abstrakten Form den Collagen nicht nur inhaltlich mehrere Schichten. Die Bildbestandteile fächern sich über vier Papierlagen auf, drei davon in Transparent, die sich in ihren tiefen Rahmen auch in den Raum erstrecken. Ähnlich verhält es sich bei den Ausblicken, wenn Ulrike Heydenreich mittels der Papier-Konstruktionen dem gezeichneten Panoramablick eine architektonische Raumform beigibt. In den neuesten Arbeiten dieser Werkgruppe sind die Blätter hingegen konkav gebogen – damit hat sie nicht nur die Ausblicke mit den verwandten Panoramaringen verbunden, 4 sondern auch zu überzeugenden neuen perspektivischen Reizen überführt.

In den Gebirgsstücken, einer Kleinstedition von Siebdrucken, finden sich analog zu den Ausblicken Papier-Faltungen wieder – sie sind nun jedoch nicht architektonisch-räumlich, sondern zu dreiseitigen Körpern gefaltet – ihre räumliche Tiefe erzeugen sie durch überaus scharfe Kanten. Damit bieten sie gleichfalls eine weitere räumliche Ebene zu den darauf gedruckten und titelgebenden Gebirgsstücken, die mit ihren grobgerasterten Motiven und der eisblauen Farbigkeit das benannte Erhabene auf eine wiederum andere, neue Weise ins Bild setzen. Wenn „Zeichnung als Weltentwurf“5 gelten kann, was Ulrike Heydenreich in den vergangenen Jahren eindrucksvoll belegte, so dehnt sie nachgerade diese Idee in den Raum aus. Dieses Ansinnen von ihr bekommt durch die mit den Siebdrucken korrespondierenden Glasobjekte eine spannende Gestalt. Sie referieren mit den zarten silbrigen Linien auf reduzierte Quarzformen, somit bekommt dasselbe Ausgangsmaterial wie bei den Collagen und deren Ästhetik eine neue Form. Die Skulpturteile sind unterschiedlich groß und hoch an die Wand gelehnt, eine mögliche Erweiterung oder Veränderung schwingt in der beiläufig und temporär wirkenden Aufstellung mit. Die gesamte Installation ist durch eine formale Strenge und kühle Ausstrahlung gekennzeichnet mit eine minimalistischen Anmutung, der nichts Narratives anhaftet. Doch spiegeln die Glaselemente die Umgebung des Ausstellungsraumes, beziehen die sich bewegenden Betrachter mit ein und reflektieren das einfallende – und sich verändernde – Licht. Zarte Spiegelungen des Selbst, Reflektionen nicht nur im optischen Sinne sondern auch insofern, als der Betrachter der Quarzskulpturen auf sich selbst zurückgeworfen wird, machen einen wesentlichen Reiz dieser neuen – und tatsächlich in den realen Raum ausgreifenden – Arbeiten Ulrike Heydenreichs aus.

Dr. Petra Lanfermann


1 Gottlieb Sigmund Gruner, Die Eisgebirge des Schweizerlandes, Bern 1760

2 Vgl. hierzu der Katalog Der Zeichnung Raum geben. Bettina van Haaren, Pia Linz, Brigitte Waldach, Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 2011/12.

3 Vgl. hierzu bspw. die Fotografien Elger Essers oder die Gemälde/Neonarbeiten Sven Drühls, z.B. im Katalog Kalte Rinden – Seltene Erden. Die Landschaft in der Gegenwartskunst, Stadtgalerie Kiel/Märkisches Museum Witten/Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 2012/13.

4 Vgl. zu diesen beiden Werkgruppen den Aufsatz der Autorin im Ausstellungskatalog „Laß Dich von der Natur anwehen“. Landschaftszeichnung der Romantik und der Gegenwart, Kunsthalle Bremen 2013.

5 Je mehr ich zeichne – Zeichnung als Weltentwurf, Ausstellungskatalog Museum für Gegenwartskunst, Siegen 2010/11.