Through the Looking Glass (deutsch)

Jutta Kleinknecht

Blickt man durch die kaleidoskopartigen Spiegelobjekte Ulrike Heydenreichs, fühlt man sich an die Eingangsszene des berühmten 1871 erschienenen Romans „Through the Looking Glass“ (Durch den Spiegel und was Alice dort fand) von Lewis Carroll  erinnert.

Hier betritt Alice durch einen Spiegel das vermeintliche Spiegelbild des realen Raumes. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich eine fast surreale Kunstwelt. Auch der Betrachter der Arbeiten Heydenreichs schlüpft durch das Glas in eine Welt zwischen Realität und Illusion. Die Spiegelung führt zu einem faszinierenden kleinen Universum aus Abbild und Imagination.

Ulrike Heydenreichs wiederkehrendes Thema ist die Landschaft. In ihren Zeichnungen, Graphiken und skulpturalen Objekten arrangiert sie versatzstückartig topographische und kartographische Elemente zu neuen Bildwelten. Alle Arbeiten kreisen um die Darstellung der Dreidimensionalität, am unmittelbarsten die neuen Spiegelobjekten, am subtilsten die Zeichnungen.

Der Spiegel galt schon im 17. Jahrhundert und in den Spiegelkabinetten des Barock als Symbol der Vergänglichkeit und als Blick hinter die Wirklichkeit. Heydenreichs Spiegelskulpturen basieren auf der Idee des Kaleidoskops. Dabei schaut man in ein mit Spiegelglasprismen ausgelegtes Röhrchen, in dem sich farbige Glassplitter frei bewegen können. Sie führen vor der hinteren Mattscheibe die fantastischsten Ornament- und Blumenbilder vor Augen.

Heydenreich steigert diese alte Erfindung ins Skulpturale: Der Betrachter blickt durch ein von ihr geschaffenes, aufrecht stehendes Kaleidoskop wie in die Tiefen eines Brunnens. Er sieht geometrische Figuren aus dem Bereich der Kartographie, die sich durch vielfache optische Spiegelungen zu einer imaginären Weltkarte oder Weltkugel verwandeln. Eine weitere Skulptur nimmt die Standfläche, den Boden des realen Ausstellungsraums auf. Die Spiegelung erinnert an einen Planeten eines fremden Universums.

Das Motiv der topographischen Karte findet sich auch in den Siebdruckarbeiten der Künstlerin. Eine Karte wird mittels Ausschnittspiegelungen im Computer kaleidoskopartig zu einer neuen Bildform verfremdet. Es sind Symmetrien, geometrische Figuren und ornamentalen Formen, die den Charakter der Blätter ausmachen. Die Karten, zunächst zweidimensionale Darstellung von Landschaft,  werden gefaltet und springen durch Entfaltung in die Räumlichkeit zurück. Die Enthüllung wird äußerst fragil in Glaskästen festgehalten. Die Arbeiten scheinen der Kunst- und Wunderkammer entsprungen. Karten zählten seit den ersten Kartographien eines Leonardo da Vinci zusammen mit optischen Geräten zur Vermessung und Naturbeobachtung zu einer wichtigen Kategorie der Scientifica.

Objektkästen baut Ulrike Heydenreich auch für ihre Bleistiftzeichnungen, zuerst im Rund mit ungefähr einem Meter im Durchmesser, dann auch reduziert in rechtwinkligen Formaten für kleinere Landschaften.

Bei den Zeichnungen handelt es sich durchgehend um Gebirgslandschaften mit Schneefeldern. Die Vorlagen stammen aus historischen Bildbänden, noch aus Zeiten der Kupfertiefdruckpublikation. Heydenreich kombiniert Ausschnitte dieser Ansichten zu imaginären Landschaften. Einzelne Szenerien werden in einem montageartigen Prozess zu einem Bildganzen zusammengesetzt, das dem Betrachter im ersten Moment eine reale Landschaft suggeriert. Die horizontale Abfolge der Berg- und Landschaftssegmente jedoch ist verändert. Es finden sich künstliche Schatten und einzelne Elemente spiegeln sich an anderer Stelle wider.

Mit ihren Panoramaringen konstruiert die Künstlerin eine grenzenlose Landschaft. Der wandernde Blick des Betrachters auf der Suche nach vertrauten Orten oder bekannten Landschaftsformationen findet weder Anfang noch Ende. Ulrike Heydenreich montiert diese fiktiven Panoramen nahtlos und arenenartig abgeschrägt in kreisförmigen Holzrahmen, wodurch sie architektonischen und skulpturalen Charakter gewinnen. Die Abwicklung im Rund erinnert an Landschaftsaufnahmen aus der Zeit der Romantik. So hat etwa Caspar David Friedrich Landschaften entworfen, die einen Blickwinkel von 180° abdecken. Künstler wie Karl Friedrich Schinkel, aber auch Schausteller experimentierten bereits mit der Idee des Rundpanorama. Die Kunst trat in Konkurrenz zur Wirklichkeit. Fotorealistische Landschaftsdarstellungen sollten sich als kreisrunde, unendliche Bildräume der radialen Sehweise des Menschen anpassen.

In den jüngst entstandenen Zeichnungen Ulrike Heydenreichs wird die räumliche Wirkung kleinerer Landschaftsausschnitte durch architektonisch äußerst präzis berechnete Perspektivkästen gesteigert. Auch hier wird die Zeichnung zum Objekt und zur Skulptur im Raum, eine eigene, kleine Bildbühne enthaltend, dem Guckkastenbild vergleichbar. Der Panoramaausschnitt der Zeichnung verwandelt sich zum Fensterblick und die Weißflächen des Rahmens werden zum perspektivisch verzerrten Innenraum. Die Landschaft scheint sich im Raum des Rahmens fortzusetzen, ein Darstellungsmittel, das es schon seit den barocken Illusionen eines Andrea Pozzo gibt. Was bleibt, ist die Illusion, die sich erst auf den zweiten Blick offenbart. Die konstruierte Perspektive der Kästen spricht das Auge des Betrachters unter dessen wechselnden Blickwinkeln in fortlaufender Wandlung an. Eine Reihung von Objekten ist damit besonders faszinierend.

Man möchte meinen, Ulrike Heydenreich betrachtet die Welt, als sei sie mit Wilhelm von Humboldt auf Reisen und als gelte es, den Blick des Menschen auf die Wirklichkeit wie in den Glaskästen einer naturhistorischen Sammlung zu konservieren. Die Welt erscheint neu im Spiegelbild dieser künstlerischen Interpretation des Sehens.