Über Raum und Zeit hinaus
Marion Hoffmann einen Katalog, erschienen 2021 anlässlich der Ausstellung in der Wichtendahl Galerie
Faszination für die Erhabenheit, Reinheit und Unveränderlichkeit oder auch Ehrfurcht vor der Unzugänglichkeit – der Anblick von Hochgebirgen ruft bei allen Betrachtenden starke Gefühle hervor. Doch nicht nur die Verehrung, etwa als „heilige Berge“, vom Bussen in Oberschwaben bis hin zum Kailash in Tibet, ist ein Ausdruck dieser Faszination, sondern auch der Impuls, deren Wildheit zu domestizieren. Diesem gab sich schon Alexander von Humboldt hin, als er im Jahr 1802 den über 6000 Meter hohen ecuadorianischen Vulkan Chimborazo vermaß, erforschte und zu ersteigen versuchte. Auch in der Malerei schlug sich die Faszination unberührter Berglandschaften im Lauf der Geschichte immer wieder nieder, sei es im Blick auf ihre wilde Erhabenheit, wie etwa in den „heroischen Landschaften“ seit dem 17. Jahrhundert oder aber unter dem Aspekt der Andacht, wie in der Romantik des 19. Jahrhunderts.Schon immer standen Berge als Sinnbild für das Unbekannte und Unerreichbare. So auch für Ulrike Heydenreich: „Mich fasziniert dieses urmenschliche Streben nach unberührter Natur und nach dem fernen Unbekannten. Für mich sind schneebedeckte hochalpine Landschaften Sinnbilder dieser Sehnsucht.“
Die eisigen Felslandschaften der Hochgebirge bilden das Thema ihrer Werke, sei es in Zeichnungen, Collagen oder in Faltarbeiten. Dabei setzt sie ihren künstlerischen Fokus sehr konzentriert auf das Motiv, indem sie es von allem, was nicht wesentlich erscheint, befreit. So spielen etwa Menschen, sofern sie überhaupt einmal den Weg in eines der Kunstwerke gefunden haben, immer nur eine untergeordnete Rolle. Die Hauptrolle hingegen hat ganz eindeutig die unbelebte Natur inne: Felsen, Schnee und Eis.
Immer ist es Papier, auf das die Hochgebirge gebannt sind, so dass ein starkes Spannungsverhältnis zwischen der Materialität des Bildträgers und der des Bildmotivs selbst entsteht: Zartheit steht gegen Wildheit, Biegsamkeit gegen Härte, Leichtigkeit gegen Schwere, Vergänglichkeit gegen Unvergänglichkeit. Hinzu kommt, dass sich die höchsten Berge, die weitesten Schneefelder, kurz, die Unendlichkeit der Hochgebirge auf dem nur sehr beschränkten Format der Papiere entfalten.
Mit dem klassischen Landschaftsbild hat das Werk von Ulrike Heydenreich nichts zu tun. Stattdessen eröffnet sie ganz neue Wahrnehmungsmöglichkeiten auf das alte Sujet. So wird in den Bleistiftzeichnungen der Blick nicht etwa von einem Vordergrund ausgehend allmählich in die Ferne geführt, wie dies im klassischen Landschaftsbild üblich ist, sondern in Szene gesetzt wird ausschließlich die entrückte Weite der eisigen Felsen. Diese Motive der Ferne zeichnet die Künstlerin, inspiriert von verschiedenen Fotovorlagen, so minutiös, dass man ganz nah herangehen möchte, um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich nicht um Fotografien handelt, sondern um Zeichnungen; eine Technik also, deren kleine, feinteilige Strichelungen den gigantischen Dimensionen der Motive diametral entgegenstehen, wie auch die Nahsichtigkeit der Darstellung in spannungsvollem Gegensatz zu der Ferne des Dargestellten steht.
Diese widersprüchliche Wechselwirkung von Kleinheit und Größe, Nähe und Ferne sind ebenso Thema wie Fragen nach Form, Raum und Zeit.
Die Spannung zwischen dem unregelmäßigen, natürlichen Erscheinungsbild der Felsmassive im Kontrast zu geometrischen Formen rein künstlerischer Natur arbeitet Ulrike Heydenreich auf unterschiedliche Weise heraus. In ihren Collagen aus vervielfältigten alten Fotografien und mehreren Schichten darüber gelegten fast durchsichtigem Pergamin klebt sie schmale Papierstreifen ein, die sich zu kristallinen Formen fügen; in einer anderen Werkgruppe aus herausgetrennten Seiten eines Bildbandes spannt sie Fäden über die Motive. Können die Linien als Zeichen der Aneignung der Landschaft durch den Menschen gedeutet werden? Als Vermessungslinien der Wirklichkeit? Als Versuch der Systematisierung der Welt? Zeigen sie die stilisierten Umrisse der Berge, bevor die Erosion durch Wind und Wetter den Gipfeln die Höhen und Kanten nahm? Oder verweisen sie auf die winzigen Kristallformen, aus denen sich die Gesteine im Laufe von Jahrmillionen zu mächtigen Kolossen aufgebaut haben? In jedem Fall spielt die Künstlerin ein subtiles Spiel zwischen amorph-unregelmäßigen und geometrisch-geradlinigen Elementen, zwischen natürlichen Phänomenen und konstruierten Formen, zwischen Abbildlichkeit und Abstraktion.
Auch in ihren Zeichnungen arbeitet Ulrike Heydenreich diese Gegensätze heraus, indem sie sie einbettet in geometrische Formen perfekt geschnittenen und gefalteten Papiers und das Ganze in Objektkästen präsentiert, die an Schaukästen in Naturkundemuseen erinnern. Hinzu kommt noch ein subtiles Reflektieren über das Thema Raum. Zum einen steht die zeichnerisch-illusionistisch in Szene gesetzte Räumlichkeit der Gebirge in scharfem Kontrast zur Flächigkeit des Himmels, der sich nicht etwa in eine unendliche Ferne verliert, sondern – im Gegenteil – lediglich aus der weißen Fläche des Papiers besteht. Zum anderen sind die Zeichnungen von schräg gestellten Papierflächen umgeben, so dass nicht nur illusionistisch sondern auch ganz real Tiefe entsteht. Andere Zeichnungen sind Teil von skulpturalen Objekten, in die die Betrachtenden eintreten können und so von gezeichneten Gebirgslandschaften umgeben sind. In einer weiteren Werkgruppe sind Zeichnungen in schalenartig flachen, auf dem Boden stehende Objekte eingepasst, auf die man von oben hinunterblickt und so nicht nur einen ungewöhnlichen Umgang mit dem Thema Räumlichkeit erleben, sondern die enorme Höhe der Berglandschaften aus der noch höheren Perspektive eines Vogels wahrnehmen kann.
Einen sehr ungewöhnlichen Umgang mit Raumbildung betreibt die Künstlerin auch in einer neuen Werkgruppe, in der sie Fäden derart straff über die Bilder spannt, dass sie das Papier wölben und selbst zu einem räumlichen Phänomen machen, das eine spannungsreiche Zwiesprache mit der nur illusionistischen Räumlichkeit der Motive anstimmt. Und wenn die Künstlerin in ihren jüngsten Arbeiten historische Gebirgspanoramen faltet, bringt sie die an sich zweidimensionalen Blätter in die dritte Dimension, begleitet von einem durchdachten Spiel mit Verschattungen und Hervorhebungen. Hierbei geht Ulrike Heydenreich höchst aufwändig vor: Vor der eigentlichen Papierbearbeitung baut sie zunächst Modelle, um die für die Faltarbeiten perfekten Abstände und Winkel auszurichten, sowie die Anordnung der mehrschichtigen Papierlagen und etwaige Lücken zu planen. Solch akkurate Faltungen begegnen uns üblicherweise bei feinen Plissee-Stoffen oder eleganten Fächern – Dingen der gehobenen Zivilisation also, die den absoluten Gegensatz zur wilden Natur verkörpern. Zugleich wird das Paradoxon initiiert, dem Jahrmillionen beanspruchenden natürlichen Vorgang der Gebirgsauffaltung die in nur wenigen Wochen erzeugte künstlerische Faltung entgegenzusetzen und auf die unregelmäßigen und rauen Oberflächenreliefs der Berge mit den glatten Oberflächen und geometrisch-exakten Knicken des Papiers zu antworten. Damit pointieren die Werke über die Auseinandersetzung mit der Räumlichkeit hinaus den Gegensatz zwischen Wildheit und Zivilisation.
Auch das Phänomen der Zeit ist ein wichtiger Aspekt im Werk von Ulrike Heydenreich. Geradezu aufgehoben wird sie in den Zeichnungen: Nichts, was bildlich den Ablauf von Zeit suggerieren könnte, ist hier zu sehen. Da zieht keine Wolke am Himmel, da weht kein Wind, da ist nichts, was sich bewegen könnte. Die Gebirge scheinen der Zeit und dem Raum enthoben.
Mit der Wahl der Vorlagen für ihre Collagen – Fotografien vom Beginn des 20. Jahrhunderts – öffnet die Künstlerin einen anderen Aspekt der Zeit, nämlich den der Vergänglichkeit: Die Gletscherlandschaften, welche die altertümlich gekleideten Alpinistinnen und Alpinisten auf den Fotografien vom Anfang des letzten Jahrhunderts betrachten, dürften größtenteils abgeschmolzen sein. Vielleicht sind die überarbeiteten Fotografien aus ebendiesem Grund hinter Schichten von transluzidem Papier gelegt. Gleichsam hinter einem Schleier verschwimmen die Motive und rücken in die Ferne, wie Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit.
Einen Ausflug in den Alpinismus des frühen 20. Jahrhunderts erlauben auch die Faltarbeiten aus Panoramadrucken der schönsten Berggipfel, die einst als Jahresbeilagen von Alpenvereinsjahrbüchern ausgegeben worden waren. In jener Zeit hatte man den Blick auf die Berge und den Umgang mit diesen radikal verändert. Waren Gebirge bislang der wilde Gegenpol zum alltäglichen Leben, das meist in vorgegebenen, eng gesteckten Bahnen verlief, und deren Gefahren man sich tunlichst nicht aussetzte, so begann nun eine Entwicklung, die bis heute fortdauert: Man bezwang die Berge durch Wanderungen, Skitouren und Besteigungen und trachtete danach, sie durch Straßenbau, Vermessungen und Benennungen aller Gipfel zu „zähmen“. Die Panoramadrucke geben ein anschauliches Zeugnis davon und werden gleich noch ein zweites Mal „gezähmt“ durch die spielerisch wirkenden Faltungen, denen die Künstlerin sie unterwirft.
Das Werk von Ulrike Heydenreich vermittelt uns einen neuen, frischen Blick auf uralte Gebirgslandschaften. Es ist ein Spiel mit Ferne und Nähe, mit amorphen und geometrischen Formen, mit Abbildlichkeit und Abstraktion, verknüpft mit dem Hinterfragen von Raum und Zeit – geistvoll, inspirierend und voll Ästhetik.