Ulrike Heydenreich – die Bauhaus-Romantikerin

Dr. Petra Lanfermann

„Ich bin Romantikerin, die an der Bauhaus-Universität Weimar studiert hat.“ Mit diesem scheinbar paradoxen Bekenntnis umreißt Ulrike Heydenreich die beiden Pole, zwischen denen sich ihre künstlerische Arbeit bewegt. Bauhaus – da denkt man an weiße Kuben, strenge Formen und klare Raumgliederungen. Heydenreich verzichtet tatsächlich auf Farben, die ihrer Ansicht nach die Konzentration auf ihre Bilder und in ihren Bildern stören würde. Der Betrachter der Ausblicke kann sich in einem leeren, weißen Raum wähnen mit großem Panoramafensterglas, durch das er die Gebirgsketten bewundert. Tritt er weiter zurück, wird die ganze Zeichnungs-Konstruktion in ihrem tiefen, textilüberzoge Rahmen zu einem Mikrokosmos, einer Art Guckkasten oder Diorama und die Zeichnung wird zur fotorealistischen Illusion. Solches Changieren ist der Künstlerin Anliegen, ihr großes Thema ist das Verhältnis von zweidimensionaler Zeichnung und dreidimensionalem Raum.

Raum-Zeichnungen sind in der gegenwärtigen autonomen Künstlerzeichnung ein wichtiger Leitgedanke, vor allem die Simulation imaginärer Räume, die zum Teil auch in den realen Raum ausgreifen. Heydenreichs künstlerischer Weg hat seinen Ausgangspunkt jedoch in der Kartografie. So wie sie begeisterten sich immer schon bildende Künstler für die Kartografie: Leonardo da Vinci, Hans Holbein, Albrecht Dürer und viele weitere arbeiteten mit dieser neuen Dimension, sich die Welt anzueignen. Im 19. Jahrhundert trennten sich dann Kunst und Wissenschaft stärker als je zuvor, die Sparte und der Begriff Kartografie wurden geboren. Die romantischen Künstler waren einerseits fasziniert von den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, andererseits distanzieren sie sich mit einer naturmystischen Haltung und bildkünstlerischen Umsetzung davon. In den 1960er Jahren ist wiederum ein verstärktes Interesse von Künstlern an Kartenmaterial zu verzeichnen – das Abstrahieren von Realem und vor allem die strategischen Informationen bzw. deren Nutzung wurden von KP Brehmer und seinen Zeitgenossen in ihren Bildern reflektiert.

Ulrike Heydenreich sieht sich also in einer langen Tradition verortet, jedoch ohne den Antagonismus der Romantik oder die politische Brisanz der Nachkriegsära. Ihr Anknüpfungspunkt ist vielmehr, dass eine Karte letztlich die dreidimensionale Landschaft in die zweidimensionale Ebene überführt. Sie schlägt wiederum den umgekehrten Weg ein: Ende der 1990er Jahre fertigte sie Reisedecken – Landschaftsmodelle, die reliefartig die Höhenlagen des Geländes widerspiegeln. Sie webte und stickte zweidimensionale Karten ins Dreidimensionale. Ihre ersten Panoramazeichnungen entstanden dann, indem sie sich in ein Gestell platzierte mit einem sie umgebenden Panoramaring. Sie drehte sich also in diesem Gestell um ihre Achse und fing dergestalt die Umgebung ein. Diese Zeichnung zeigte sie dann jedoch herausgelöst an die Wand platziert, zwei mal 180 Grad einfangend. Inzwischen geht sie mit den ausgestellten Panoramaringen einen Schritt weiter: Hier sind die zweidimensionalen Zeichnungen in das Rund gesetzt, sie schafft eine neue dreidimensionale Form. Und so funktionieren diese Panoramaringe als zeichnerische Skulptur, also in den Raum gelegt, und nicht bildartig an die Wand gehängt. Der Betrachter muss sie umschreiten und erhält einen umfassenden Einblick – doch der Blickwinkel ist der umgekehrte, als würde er sich in der Natur befinden und auf die umliegenden Bergketten schauen. Das, was Panoramafotografen mit Weitwinkelobjektiv einfangen, verdichtet sich bei Heydenreich zu einem umschreitbaren Ring. Sie überträgt das Große ins Kleine, sie schafft eine überschaubare, eine „transportable“ Weite mit den Ringen. Im 19. Jahrhundert versuchten Panoramen gleichfalls, die unendliche Weite einzufangen, wie wir es heute noch auf Bergen mit Erklärungstafeln oder den Umgehungsplattformen auf Fernsehtürmen erleben. Weite ist letztlich ganz wesentlich, um ein erhabenes – ein romantisches – Landschaftsgefühl entstehen zu lassen. Viele zeitgenössische Landschaftsmaler und auch -zeichner wählen nicht zufällig riesige Formate und/oder verweisen dezidiert auf die romantischen Vorbilder. Hingegen wählt Heydenreich ganz bewusst kleine Formate und stellt die Entgrenzung über das Rund der Panoramaringe – die tatsächlich keinen Anfang und kein Ende haben – oder die Faltung und Rahmung der Ausblicke her. Die räumliche Tiefe und der Sog in die Ferne, die für die Romantiker auch bereits in ihren Zeichnungen fundamental waren, evoziert Heydenreich nicht nur über die Zusammensetzung der Gebirgsketten, sondern in den Ausblicken zusätzlich mittels der bereits erwähnten Faltung des Papiers, die auch an Landkarten denken lässt. Wie bei den Panoramaringen werden diese Zeichnungen in ihren Objektkästen raumgreifend.

Mit ihrem Panorama-Gestell fing Heydenreich noch ihre tatsächliche Umgebung ein. Die Panoramaringe wie auch Ausblicke sind hingegen angeregt von Bildbänden vergangener Zeiten und Postkarten aus den 1950er Jahren, aus denen sie Panoramen zusammenfügt, die es so nicht gibt – die aber ebenso wie frühere romantische Landschaftsbilder absolut realistisch erscheinen. Auch Caspar David Friedrich ist nie in die Alpen gereist, hat das Hochgebirge aber voller Sehnsucht und Ehrfurcht gemalt. Mehr noch entstanden (nicht nur seine) romantischen Landschaften in der Abgeschiedenheit des Ateliers, in Abgrenzung zur Außenwelt, die mittels Fensterläden und Tüchern sogar ausgegrenzt wurde. Die romantischen Landschaftsgemälde sind konstruiert und komponiert, so wie Ulrike Heydenreichs fotorealistische Zeichnungen inszeniert sind. Doch gerade durch das zeichnerische Medium ruft sie noch größere Authentizität hervor. Denn nicht nur hielten auch die Romantiker in ihren Zeichnungen tatsächliche Eindrücke fest, bis heute suggeriert dieses älteste aller künstlerischen Medien Echtheit und Unmittelbarkeit. Mit ihren strengen, sehr ausgefeilten Zeichnungen „folgt [Heydenreich] spielerisch dem Ansatz eines wahrhaften Landschaftsportäts“ und zeigt gegenwärtige romantische Bilder. Romantik meint letztlich eine Gefühlslage, die in Anbetracht der Landschaft entsteht, der subjektiven Wahrnehmung von objektiv Gegebenem, einem Verhältnis von Mensch, Natur und Universum. Zumal sie nicht zufällig das Gebirge wählt: Dort ist das Gefühl von Weite, Einsamkeit, Endlichsein, einer Dominanz der Natur, in der sich der Mensch unterordnen muss, immerhin bis heute noch spürbar. Heydenreichs einerseits analytischer Blick, mit dem sie die Bergketten aussucht, ihr andererseits idealisierender Blick, wenn sie diese Auswahl zusammenfügt und arrangiert, lässt ihre geheimnisvoll-entrückten Entwürfe sehr romantisch erscheinen. Die Wahrnehmung von Landschaft wird letztlich aus den Bildern geformt, die wir seit Jahrhunderten von ihr zusammentragen. Und das Landschaftsbild als solches ist seit jeher eine – großartige – Fiktion gewesen.

Petra Lanfermann, 2014
für den Katalog Lass Dich von der Natur anwehen: Landschaftszeichnung der Romantik und Gegenwart (Kunsthalle Bremen)


1 2, S. 10 f., hier S. 10.
2 Vgl. Der Zeichnung Raum geben. Bettina van Haaren, Pia Linz, Brigitte Waldach, Kat. Ausst. Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 2011/12.
3 Vgl. Isabell Schenk-Weininger: Krieg Medien Kunst. Der mediale Krieg in der deutschen Kunst seit den 1960er Jahren, Nürnberg 2004 [zugl. Diss. Tübingen 2004], Kap. 4.2.
4 Siehe Beitrag in: neudeli, Kat. Ausst, Bauhaus-Universität Weimar 1999, S. 50-53.
5 Siehe Abbildung in: Out Ulrike Heydenreich im Interview mit Katja Stuke und Oliver Sieber: „Ich finde meine Motive in Schwarz-Weiß-Fotografien oder topografischen Landkarten“, in: Ant!Foto, Katalogheft Kunstraum Düsseldorf 201 of bounds, Ausstellungsheft Wave Hill Glyndor Gallery New York 2005, S. 12.
6 Vgl. neben den hier besprochenen/ausgestellten Künstlern auch den Katalog Kalte Rinden – Seltene Erden. Die Landschaft in der Gegenwartskunst, Kat. Ausst. Stadtgalerie Kiel/Märkisches Museum Witten, Stadtmuseum Hattingen/Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen 2012/13; etwa Sven Drühls Gemälde C.D.F.C.D.F.C.D.F.C.D.F., 2009, Abb. ebd., S. 34 f.
7 Siehe Gemälde wie: Carl Gustav Carus: Malerstube im Mondschein, 1826, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe oder Georg Friedrich Kersting: Caspar David Friedrich in seinem Atelier, 1811, Hamburger Kunsthalle.
8 Christian Gögger über Ulrike Heydenreich, in: Rita Hensen/Ulrike Heydenreich, Katalogheft Galerie Gudrun Fuckner, Ludwigsburg 2011